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Das Ziel ist Rache - das Ergebnis ist Selbstzerstörung Niemand kann zu diesem Zeitpunkt erahnen, welche Opfer ein Rachefeldzug noch fordert, als man die erste schrecklich zugerichtete Leiche findet. Die Frau wurde hingerichtet von einem Täter, der damit eine blutige Spur durch die Strafverfolgungsbehörden ankündigt. Dass er keine Spuren hinterlässt und sein Motiv Rätsel aufgibt, macht es dem bekannten Ermittlerteam um Peter Liebig und Rita Momsen nicht einfacher. Seine Todesliste arbeitet der Killer unerbittlich ab. Das Grauen findet seine Fortsetzung, obwohl sich Puzzlestücke zusammenfügen. Der Tod jedoch hat die sympathischen Kripobeamten längst eingeplant.
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Die Rache bleibt
Von H.C. Scherf
Thriller
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Die Rache bleibt
Band 4 der Liebig/Momsen-Reihe
© 2019 H.C. Scherf
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DIE RACHE BLEIBT
von H.C. Scherf
En la fiebre de la venganza también un buen hombre se vuelve bestia
Im Rausch der Rache wird auch ein guter Mensch zur Bestie
Weisheit der mexikanischen Indios
Der cremefarbene Ford Taunus kam mit quietschenden Bremsen in der Einfahrt der im viktorianischen Stil gebauten Villa zum Stehen und zündete noch zweimal nach. Der Rechtsmediziner Dr. Ralf Schiller strich noch ein letztes Mal über das Lenkrad, so als wollte er sich dafür bedanken, dass der Oldtimer wieder einmal durchgehalten und ihn wohlbehalten nach Hause gefahren hatte. Ein gemeiner Schmerz in der Lendenwirbelmuskulatur durchfuhr den Mediziner, als er sich zur Rückbank umdrehen wollte, um den bunten Blumenstrauß zu greifen, den er seiner geliebten Maria zum heutigen Geburtstag mitgebracht hatte. Die vielen Kunden, die er heute auf den Seziertischen untersuchen musste, hatten ihn der Gelegenheit beraubt, die Blumen in einem richtigen Blumenladen zu kaufen. Ihm war nur der Shop an der Tanke geblieben. Nun hoffte er inständig, dass es Maria nicht auffallen würde. Schließlich würde sie sicherlich von den Gästen abgelenkt, die zu dem feierlichen Anlass das Haus besetzt hielten.
Die ebenfalls quietschende Autotür, die sich nur schwer schließen ließ, erinnerte Schiller lautstark daran, dass er die Scharniere schon vor Wochen ölen wollte. Seufzend setzte er auch dieses Vorhaben einmal mehr auf die To-do-Liste, die er lediglich in Gedanken führte. Sein gedrungener Körper straffte sich, als er den Haustürschlüssel wieder aus dem Schließzylinder zog und er sich auf das Stimmengewirr vieler Gäste vorbereitete. Nur zögernd ließ er die Tür ins Schloss fallen, lauschte in die unerwartete Stille des Hauses. Kein Geschnatter, keine Musik – dafür aber gespenstische Ruhe und ungewohnte Düsternis. Ein schmaler, kaum wahrnehmbarer Lichtstrahl drängte aus dem Schlafzimmer in die Diele und schaffte in Schiller, ohne dass er es sich erklären konnte, Unbehagen. Er befreite sich von seinem Kamelhaarmantel, warf ihn gedankenverloren über den Garderobenhaken. Die jetzt leicht zitternden Finger umfassten immer noch den Blumenstrauß, den er fast wie eine Waffe vor sich hertrug. Seine Augen waren auf den Türschlitz gerichtet, während er mit dem Taschentuch in der anderen Hand erste Schweißperlen von der hohen Stirn wischte. Sie hatten sich bereits über die gesamte Glatze ausgebreitet. Kurz vor der schweren Schlafzimmertür, die den Charme der Fünfzigerjahre versprühte, blieb er noch ein letztes Mal unentschlossen stehen.
»Maria? Bist du da drin? Sag doch was, Liebes.«
Nichts. Keine Antwort. Etwas Unerklärliches hielt ihn noch einen Moment zurück. Mit den Fingerspitzen drückte er dann doch das Türblatt Zentimeter für Zentimeter nach innen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Hand mit den Blumen öffnete sich, trennte sich vom Grün der Pflanzen, die kurzen Beine des leicht übergewichtigen Mediziners versagten den weiteren Dienst. Ein fast stummer Schrei verließ seine Kehle, bevor er auf den Boden sank.
Die mit Efeu überwucherte Vorderfront der Schiller-Villa hatte ihre majestätische Ausstrahlung durch die flackernden Lichter der Einsatzfahrzeuge verloren. Nun wirkte sie gespenstisch. Die ansonsten ruhige Straße hatte die Beschaulichkeit eingebüßt, in der sie normalerweise um diese späte Stunde strahlte. Mindestens zehn Fahrzeuge von Polizei und Rettungsdiensten waren vorgefahren und lockten die Nachbarn vor ihre Türen. Da noch nichts an Informationen floss, kursierten bereits die wildesten Gerüchte.
Hauptkommissar Peter Liebig saß dem älteren Mann gegenüber, der ihm in den letzten Jahren zum Freund geworden war. Nichts war mehr zu spüren von der Fröhlichkeit, die ihre früheren Begegnungen immer auszeichnete. Vor Liebig saß ein gebrochener Mann, der beide Hände vor das Gesicht geschlagen hielt und hemmungslos weinte. Auch Kommissarin Momsen, die Liebig wie selbstverständlich gefolgt war und immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, sah hilflos auf die gebeugt dasitzende Gestalt, unfähig, ein Wort des Trostes zu sprechen. Schließlich drängte sie sich wieder in das Schlafzimmer, in dem sie ein weiteres Mal auf das Grauen starrte, das ein Wahnsinniger hinterlassen hatte.
Während sie die Kollegen der Spurensicherung beobachtete, die in ihren weißen Schutzanzügen wie Schneemänner wirkten und vorsichtig jeden Millimeter des Raumes nach Hinweisen absuchten, bemerkte sie nicht die Gestalt, die wortlos neben ihr auftauchte. Erst als Liebig seine Gedanken mit erstickter Stimme offenbarte, sah sie ihm ins Gesicht.
»Habe ich Ihnen nicht prophezeit, dass das niemals aufhören wird? Wer tut nur so was? Diese Frau hat niemandem jemals ein Leid zugefügt. Sie sammelte schon seit Jahren Geld für eine Organisation, die sich um ehemalige Strafgefangene kümmert. Sie wollte diesen Menschen bei der Eingliederung helfen. Nun ist sie womöglich selbst Opfer einer solchen Bestie geworden. Rita, das ist selbst mir zu viel. Würde mir das Tier jetzt über den Weg laufen, wüsste ich nicht, was ich täte.«
Rita blieb eine Antwort schuldig, die an jedem anderen Tag gefolgt wäre. Heute aber blieb ihr nur ein zustimmendes Nicken. Da sich ihre Augen erneut mit Wasser füllten, sah sie das, was der Täter von dieser Frau übrig gelassen hatte, relativ verschwommen. Immer wieder blieb ihr Blick an dem hängen, was die Bestie mit dem Blut des Opfers an die Wand gemalt hatte.
Das ist erst der Anfang. Ihr habt meine Familie zerstört – jetzt werde ich mich an denen rächen, die Schuld daran tragen. Ich bin die Rache und komme über euch.
Endlich fand Rita die Sprache wieder.
»Denken Sie das Gleiche wie ich, Chef? Müssen wir jetzt in alten Akten wühlen, um den Täter zu finden?«
Auch Liebig las die Zeilen immer wieder und wieder, bis er auf die Frage einging.
»Wissen Sie, was das bedeutet? Dr. Schiller hat hunderte Körper aufgeschnitten, hat ebenso viele Gutachten erstellt. Der Täter wollte eigentlich ihn treffen. Ich denke, dass er in Schiller den zu finden glaubt, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass ein Familienmitglied oder sogar er selbst verurteilt wurde. Nur so kann ich mir derzeit das Motiv erklären. Wir werden im Umfeld derer suchen müssen, bei denen durch ein Gutachten Schillers jemand verurteilt wurde.«
»Und mehr lesen Sie aus dieser Nachricht nicht heraus, Chef?«, hakte Rita an dieser Stelle ein, »Wollen Sie die Wahrheit nicht erkennen? Der Täter schreibt doch deutlich, dass er sich an denen rächen wird ...«
»Ja, ich kann lesen, Momsen«, schrie er Rita lauter entgegen, als es wohl geplant war. »Sie wollen mir sicher erklären, dass ich mich ebenfalls in Gefahr befinde, weil ich schon viele Jahre mit dem Mann zusammenarbeite. War es das, was Sie denken? Scheiß drauf. Morddrohungen erhalte ich eben häufiger als Liebesbriefe. Daran gewöhnt man sich. Doch das hier ...«, Liebig zeigte mit der ausgestreckten Hand auf Maria Schiller, »... nehme ich wirklich persönlich. Sie war eine Freundin, eine echte Freundin.«
Als Liebig gehen wollte, stieß er mit dem Mann zusammen, der seinen ersten Schock scheinbar überwunden hatte. Ralf Schiller schob den großen Mann beiseite, der ihm noch soeben seine Freundschaft bestätigt hatte. Langsam bewegte er sich mit zusammengekniffenen Lippen auf das Bett zu. Seiner ansonsten ausdruckslosen Miene war nicht zu entnehmen, was er augenblicklich dachte. Noch einmal las er die Zeilen, bevor er die im Blut schwimmende Hand seiner Frau vom Laken hob und zärtlich gegen seine Wange drückte. Rita glaubte, einen tiefen Seufzer vernommen zu haben, bevor der leidende Mann die Innenfläche der Hand küsste und vorsichtig wieder in die alte Position legte. Alle Anwesenden schluckten, als sie in das jetzt blutverschmierte Gesicht des Rechtsmediziners blickten. Der jedoch machte sich an die Arbeit, die für ihn die wahre Hölle bedeuten musste. Niemand bemerkte das Eintreten des Kriminalrates Rösner, den man aus dem Bett geholt hatte. Fest legte der eine Hand auf Liebigs Schulter und zog ihn aus dem Raum.
»Was ist hier genau passiert, Liebig? Wieso lassen Sie Schiller selbst die Untersuchung durchführen? Das verstößt klar gegen jede Vorschrift.«
Liebigs Körper versteifte sich für einen kurzen Augenblick. Schnell fand er allerdings seine Fassung wieder zurück und wandte sich an Rösner.
»Finden Sie nicht, dass Sie gerade über das Ziel hinausschießen? Es dürfte doch sehr verständlich sein, dass er den Mörder seiner Frau unbedingt finden will und dazu seine Fachkenntnisse einsetzt. Außerdem steht er nicht im Polizeidienst. Somit gelten unsere Regeln nicht für ihn.«
Wenn Liebig glaubte, den Kriminalrat damit beeindruckt zu haben, wurde er enttäuscht.
»Liebig, was ist mit Ihnen los? Wo bleibt Ihr Sachverstand? Klar, Schiller ist Angestellter der Klinik, da haben Sie völlig recht mit Ihrer Bemerkung. Doch wir dürfen eine Tatsache nicht außer Acht lassen. Er hat seine Frau gefunden. Er hat uns verständigt. So weit klingt das beeindruckend und ich bin der Letzte, der nicht mit ihm fühlt. Doch wir dürfen eines niemals vergessen. Er könnte – ich wiederhole deutlich – er könnte auch selbst der Täter sein und das Ganze inszeniert haben. Ich weiß, dass es sehr weit hergeholt klingt, doch das Leben hat uns schon so manche Überraschung serviert. Sie wissen so gut wie ich, Liebig, wie oft in unserer Statistik ein Familienangehöriger später als Mörder entlarvt wurde.«
Liebigs Einwandversuch wurde von Rösner mit einer harschen Handbewegung beiseitegewischt.
»Und genau deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie Schiller vom Tatort fernhalten. Er könnte Spuren entfernen oder zumindest unterschlagen. Ich erwarte von einem Profi wie Ihnen, dass er unverzüglich das Privatleben des Mannes unter die Lupe nimmt. Wahrscheinlich werden wir nichts finden. Doch es gehört zu unserer Pflicht, auch nur das geringste Verdachtsmoment gegenüber Schiller zu durchleuchten. Machen Sie dem Mann sofort klar, dass er den Tatort bis zum Ende der Ermittlungen nicht mehr betreten darf. Ich werde ein anderes Institut, zumindest einen anderen Rechtsmediziner mit der Leichenbeschauung beauftragen. Es tut mir leid, zumal ich weiß, dass Sie befreundet sind.«
Rösner wollte sich schon entfernen, als er sich ein weiteres Mal umdrehte.
»Ach, noch eine Kleinigkeit, Liebig. Sollten Sie mit der Ermittlung in diesem Fall persönliche Probleme, also Skrupel haben, sagen Sie es mir früh genug. Ich kann das sogar gut verstehen. Dann werde ich Spiekermann mit den Ermittlungen beauftragen.«
Rösner ließ einen nachdenklichen Liebig zurück, der sich plötzlich Rita gegenüber sah, die ihn durch ihre Bemerkung wieder in die Realität zurückholte.
»Er hat recht, Chef. Sie selbst haben mir vor gar nicht langer Zeit einen Vortrag darüber gehalten, wie oft der Schuldige in der eigenen Familie gefunden wird. Wir dürfen hier keinen Unterschied machen. Soll ich mit Schiller ...?«
Fast zu schnell kam die Antwort.
»Nein, das mach ich selbst. Hören Sie, Momsen. Haben Sie wieder in meinen Gedanken geschnüffelt oder vielleicht hinter der Tür gelauscht? Ab und zu würde ich gerne ein Eigenleben führen können, ohne die Befürchtung zu haben, dass Sie in meinem Kopf herumwuseln. Sie werden mir unheimlich.«
Noch im Weggehen konnte Liebig die gemurmelte Bemerkung der Kommissarin verstehen: »Vielleicht sollten Sie weniger laut denken, Chef.«
Die Beamten von Kripo und Spurensicherung waren längst abgezogen und hatten, nachdem die Tote abtransportiert worden war, das Tatzimmer versiegelt. Stumm saßen sich Peter Liebig und Dr. Schiller im Wohnzimmer gegenüber. Liebig hatte zugestimmt, ein Glas Rotwein mitzutrinken, da er dem Freund seinen ehrlichen Beistand bekunden wollte. Ohne jegliche Regung hatte sich Schiller vor Stunden von ihm aus dem Raum führen lassen, nachdem er ihm die Gründe dafür zusammengefasst hatte. Lediglich der an die Fensterscheiben prasselnde Regen unterbrach diese düstere Stille, die in dem halbdunklen Raum vorherrschte. Nur eine flackernde Kerze verbreitete ein schwaches Licht und warf spukhafte Schatten an die Wände. Liebig schrak aus seinen Gedanken, als Schiller nach einem kurzen Hüsteln das Schweigen brach.
»Sie muss lange gelitten haben.«
Liebig ließ die bedeutsamen Worte sacken, wartete darauf, dass sich Schiller erklärte. Erwartungsvoll sah er ihn an, bis Schiller fortfuhr.
»Haben Sie die vielen Schnitte in ihrem Unterleib gesehen? Die sind ihr bei vollem Bewusstsein zugefügt worden. Die Prellungen im Gesicht zeugen von brutalen Schlägen. Das Jochbein wurde komplett zertrümmert – vermutlich, um etwas aus ihr herauszuprügeln. Dieses Schwein hat sie einfach verbluten lassen, nachdem er ihr die Brüste abgeschnitten hatte. Was treibt einen Menschen dazu, so grausam zu sein? Der Hass muss grenzenlos gewesen sein. Übrigens wurden die Schnitte mit einem Chirurgenskalpell durchgeführt. Die Schnitte sind zwar glatt, aber nicht von geübter Hand geführt. Der Mörder wusste aber genau, wo er schneiden musste, um die Gebärmutter entfernen zu können. Was kann das bedeuten, Liebig? Warum meine Maria und warum gerade dieses Organ?«
Wenn Liebig vermutet hatte, dass dieser Mann zusammenbrechen würde, wurde er in diesem Augenblick enttäuscht. Schiller hatte nichts von seinem analytisch funktionierenden Verstand eingebüßt. Die Tränen waren getrocknet und hatten einem klaren Blick für die Lage Platz eingeräumt. Zumindest dem äußeren Anschein nach war er durch diesen bestialischen Mord an seiner Frau nicht gebrochen. Liebig erinnerte sich daran, als er vor Jahren den geschändeten Leichnam seiner eigenen Frau vorgefunden hatte. Tagelang war er in Selbstmitleid und wilden Mordfantasien versunken, was den Täter betraf. Wieder einmal zeigte sich deutlich, dass es in puncto Reaktion kein übertragbares Klischee gab, das in solchen Fällen anwendbar war. Jeder verarbeitete so ein Drama auf seine eigene Art.
»Ich glaube kaum, dass ich Ihnen dazu eine plausible Erklärung bieten kann. Das Geschehen wirkt im ersten Augenblick sinnfrei. Wir werden dazu Dr. Afarid befragen müssen. Gemeinsam mit ihm müssen wir die Tat und das Geschriebene in einen Zusammenhang bringen. Der Täter oder die Täterin wird sich dabei etwas gedacht haben. Wir wollen hoffen, dass wir das Rätsel lösen können, bevor ein weiterer Mensch das gleiche Schicksal erleidet.«
Schiller unterbrach Liebig mit seiner Frage.
»Sie glauben tatsächlich, dass dieser Wahnsinn noch nicht zu Ende ist? Wir wollen nicht hoffen, dass er sein Werk weiter fortführen kann. Er schrieb ja, dass er sich an denen rächen würde, die Schuld an einem Dilemma tragen, das seine Familie betrifft. Dazu gebraucht er den Plural, was mir Angst einjagt. Er scheint mit den Angehörigen beginnen zu wollen. Haben Sie keine Angst, Liebig? Schließlich haben wir gemeinsam viele hinter Schloss und Riegel gebracht.«
Der Angesprochene schüttelt müde den Kopf.
»Wissen Sie, Schiller. Ich habe damit aufgehört, die Morddrohungen ernst zu nehmen. Wenn die zugetroffen hätten, müssten Sie meinen Tod schon seit zwanzig Jahren betrauern. Bisher hat sie noch keiner wahr gemacht. Und ich erinnere noch mal daran, dass ich keine Angehörigen mehr habe. Wenn es geschieht, soll es eben so sein. Doch ich mache es denen nicht so einfach. Irgendwie bin ich immer unter Spannung und vorbereitet. Soll er kommen – er wird sich wundern. Schiller – darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Selbstverständlich, Herr Liebig. Fragen Sie.«
»Können Sie sich erklären, warum keine Gäste mehr im Haus waren? Sie sprachen doch davon, dass Maria – ich meine Ihre Frau – heute Geburtstag hatte und sich Besuch eingeladen hatte. Sie trafen um etwa 20:30 Uhr ein. Da feiert man doch eigentlich noch. Ihre Frau war jedoch allein im Haus. Ist es Ihnen möglich, mir die Namen und Adressen der Gäste zu geben?«
Jetzt schien Schiller wirklich hellwach und trank den Rotweinrest in einem Zug aus. Er stand auf und begann eine Wanderung durch das düstere Zimmer, beide Hände in den Hosentaschen. Plötzlich blieb er stehen und sah Liebig an.
»Genau diese Frage geht mir auch schon den ganzen Abend durch den Kopf. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, Liebig, aber Maria machte aus der Gästeliste ein großes Geheimnis. Sie verriet mir weder die Anzahl, noch die Namen der Geladenen. Sie wiederholte nur immer wieder, dass es eine große Überraschung geben würde. Ich bin mir sicher, dass sie sich der traurigen Wahrheit dieser Aussage zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war. Sie hat sich vielleicht ihren Mörder selbst ins Haus geholt. Ich darf gar nicht darüber nachdenken.«
Liebig ließ ihm einen Augenblick, um diese Tatsache sacken zu lassen. Erst dann schob er eine Frage nach.
»Erinnern Sie sich bitte an das letzte Jahr. Es könnte sein, dass Ihre Frau wieder die gleichen Leute einlud. Wenn wir die befragen, könnte ja klar werden, wer der besondere Gast war und warum die Party schon früh beendet wurde. Bekommen wir das hin?«
Statt einer Antwort kam nur ein stummes Nicken. Liebig verfolgte den kleinen wohlbeleibten Mann, als der sich zum Schrank bewegte und eine Metallschachtel herauskramte. Geduldig nahm er am Tisch sitzend jedes Foto in die Hand, das Schiller ihm mit erklärenden Worten überreichte. Ein bebildertes Protokoll einer intakten Ehe und zum Teil einer lustigen Geburtstagsfeier.
Joels Geduld wurde an diesem Nachmittag auf die Probe gestellt. Der Film Der Fuchs und das Mädchen zog sich für sein Gefühl unnötig in die Länge und langweilte den hyperaktiven Spross der Familie Melchior. Ausbaden musste das ein älterer Tanklastzug, an dem er herumhantierte und Stück für Stück in Einzelteile zerlegte. Das Klingeln an der Tür kam ihm gerade recht. Einem Torpedo gleich schoss er aus dem Sessel und tobte in die Diele. Hinter der Milchglasscheibe der Haustür zeichnete sich die Kontur einer großen Person ab. Sekunden, bevor ihn Mutter Sybilles Stopp erreichen konnte, riss er die Tür auf. Seine leuchtenden Augen erfassten einen dunkelblauen Overall, in dem ein großer schwarzbärtiger Mann steckte, der erschrocken einen Schritt zurücktrat. Schützend hob der die lederne Werkzeugtasche vor die Brust und atmete scheinbar erleichtert auf, als er den kleinen Lausbuben erkannte.
»Oh Gott, hast du mir einen Schrecken eingejagt. Ich wusste gar nicht, wie streng dieses Haus bewacht wird. Bei einem solch gefährlichen Kämpfer könnt ihr euch ja einen Wachhund sparen. Was hast du mit dem Tankwagen vor? Willst du mich damit erschlagen?«
Völlig überrascht wechselte Joels Blick vom Gesicht des jetzt lachenden Mannes zum Spielzeug, das er immer noch in der Hand hielt. Jetzt überzog auch sein Kindergesicht ein Lachen. Schon fast verlegen versteckte er das Auto hinter seinem Rücken.
»Wer ist da, Joel? Mit wem sprichst du?«, erklang die Stimme von Sybille Melchior durch den langen Flur, dem neben einer verspiegelten Garderobe viele Blumenbilder einen freundlichen Eindruck verliehen. Sie wischte sich die feuchten Hände an der Schürze ab und kam näher.
»Kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie wirklich zu uns? Wir haben keinen Handwerker bestellt.«
Mittlerweile hatte der sportlich wirkende und grinsende Mann die freie Hand auf Joels Haar gelegt. Sybille musste ebenfalls lachen, als der Mann scherzhaft zu ihr sprach.
»Da haben Sie aber einen sehr aufgeweckten Jungen – der gefällt mir. Ich wollte, meiner wäre auch so. Der rekelt sich den ganzen Tag auf der Couch und zieht sich Soaps rein. Von dem höre ich nur Gemaule, weil der sich nicht richtig beschäftigen kann. Ach, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich noch nicht vorgestellt.«
Der Mann zerrte umständlich am Reißverschluss seines Overalls und zog eine eingeschweißte Karte heraus, auf dem das Logo der Stadtwerke erkennbar war.
»Mein Name ist Greiner, Edwin Greiner. Ich weiß, dass wir erst für die kommende Woche angemeldet waren, aber wir sind schneller vorangekommen, als wir glaubten. Es wäre schön, wenn ich schon heute die Wasseruhren kontrollieren dürfte. Sollten Sie allerdings keine Zeit ...«
Sybille Melchior unterbrach ihn.
»Herr Greiner, so heißen Sie doch, oder? Ich weiß nichts davon, dass die Wasseruhren schon wieder kontrolliert werden sollen. War da nicht erst im letzten Jahr jemand bei uns?«
Ein weiterer Zettel erschien in Greiners Hand, auf dem er mit dem Finger auf eine Reihe von Namen zeigte.
»Ich habe Sie auf meiner Liste. Und außerdem müssten Sie eine Nachricht mit der Post erhalten haben. Wir gehen diese Geräte neuerdings jährlich durch und erneuern die erst dann, wenn wirklich eine Ungenauigkeit oder ein Schaden erkennbar ist. Das spart uns allen unnötige Kosten und Ressourcen. Sie verstehen sicherlich, Frau Melchior. Ich komme aber gerne in den nächsten Tagen wieder, wenn es Ihnen jetzt nicht passt.«
Greiner machte Anstalten zu verschwinden.
»Nein, nein, kommen Sie rein. Ob heute oder nächste Woche ist doch egal. Wenn Sie schon einmal hier sind, dann erledigen wir das auch eben. Eine Uhr ist in der Küche, die andere im Keller.«
Joel warf sich albernd lachend gegen die Wand, krümmte sich zusammen, als der Fremde ihm aus Spaß die Faust gegen die schmale Brust drückte. Dann lief er kichernd davon, um seinem neuen Freund den Eingang zum Keller zu zeigen.
»Lass es gut sein, Joel. Der Mann muss seine Arbeit erledigen und hat sicher keine Zeit, mit dir zu spielen. Geh in dein Zimmer und räum die Legosteine zurück in die Kiste. Du weißt genau, dass Papa deine Unordnung nicht leiden kann. Also los – ab mit dir. Ich begleite Herrn Greiner nach unten. Wenn ich wieder raufkomme, will ich Ordnung im Zimmer vorfinden.«
Joels großer Freund zuckte bedauernd mit den Schultern und sah dem Knirps hinterher, der betrübt den Kopf hängen ließ. Greiner ließ Frau Melchior den Vortritt und folgte ihr die lange Treppe hinab in den verwinkelten Keller. Kurz bevor sie den dunklen Flur erreichten, hörte Sybille hinter sich die Frage: »Kann es sein, dass ich den Namen Melchior schon einmal bei Gericht gehört habe? Ist Ihr Mann dort tätig?«
Als Sybille anhielt und sich umsah, lief Greiner fast auf sie auf, konnte jedoch noch im letzten Moment stoppen.
»Da haben Sie recht, Herr Greiner. Mein Mann ist dort schon sehr lange als Staatsanwalt tätig. Sie werden doch wohl nicht ihm gegenüber auf der Anklagebank gesessen haben?«
Ein Lächeln überzog Sybilles Gesicht, als sie diese scherzhaft gemeinte Bemerkung machte. Dieses Lächeln vermisste sie allerdings bei ihrem Besucher, dessen Gesicht plötzlich eine Härte zeigte, die ihr einen Schauer über den Rücken trieb. Sie wich instinktiv einen Schritt zurück, da sie ein Signal spürte, das sich immer dann meldete, wenn sie glaubte, sich in Gefahr zu befinden. Dass sie sich auch diesmal nicht irrte, bewiesen die Schmerzen, die urplötzlich aus der Bauchgegend aufstiegen und sich bis in die tiefsten Bereiche ihres Gehirns zogen. Ungläubig wechselte ihr Blick vom kalten Gesicht des Besuchers auf ihren Unterleib, aus dem immer noch der Griff des Stiletts ragte, das er ihr oberhalb der Scham hineingestoßen und hochgerissen hatte. Sie war nicht in der Lage, die austretenden Därme und den Blutschwall aufzuhalten, die jetzt durch den stark blutenden Schnitt austraten. Ihr Körper befand sich in einer Starre, die sie einfach gefangen hielt. Sie spürte, wie die Beine jegliche Kraft verloren. Sie drohte, hinzufallen, was zwei starke Arme verhinderten, die sie auffingen. Auch im Kellergang hatte der Hausherr mit etlichen Wandhaken die Möglichkeit geschaffen, Bekleidung aufzuhängen. Einer dieser massiven Haken bohrte sich zwischen Sybilles Wirbelsäule und dem rechten Schulterblatt, als Greiner sie wie eine Puppe anhob und dagegen warf. Nur ein schwaches Stöhnen entfuhr ihrem Mund. Unausgesprochene Fragen standen in ihren Augen, als Greiner genüsslich sein Werk betrachtete und aus einer Seitentasche seines Overalls einen schmalen Malerpinsel holte. Tief tauchte er diesen in Sybilles große Wunde und zog ihn wieder heraus, vom Schmatzen des Blutes begleitet. So, dass Sybille es lesen konnte, schrieb er die Worte an die gegenüberliegende Kellerwand. Sybille spürte plötzlich, wie ihr Kreislauf zusammenbrechen wollte, konnte die Ohnmacht nicht weiter hinauszögern, bevor Greiner von seinem Werk zurücktrat.
Niemand bemerkte den Handwerker, der pfeifend das Melchior-Haus verließ und auf sein Fahrrad stieg. Seinen Overall, den er unter dem Arm geklemmt hielt, stopfte er in die Satteltasche. Die eintretende Dämmerung verschluckte den Mörder wie einen Dämon, der zurück in seine Hölle radelte.
»Wo ist der Junge?«, wollte Rita von dem Beamten wissen, der den Eingang zum Haus der Melchiors bewachte. Er betrachtete nur kurz den Dienstausweis der jungen Frau und wies schweigend auf einen Raum, der am Ende des Flures lag. Liebig war schon im Kellergang verschwunden, der die Tote beherbergen sollte. Vorsichtig näherte sich Rita Momsen dem kleinen Lockenkopf, der sich neben der riesigen Wohnlandschaft auf dem Teppich zusammengerollt hatte. Eine Polizistin strich ihm über den Rücken und sprach beruhigend auf ihn ein. Als sie zu Rita hochsah, zuckte sie mit den Schultern, was wohl signalisieren sollte, dass sie bisher nicht zu dem Kind durchdringen konnte. Rita signalisierte ihr, dass sie nun deren Rolle übernehmen wollte. Sie wartete ab, bis die Beamtin den Raum verlassen hatte. Der Kleine weinte still in sich hinein. Rita griff nach dem flauschigen, fast kindgroßen Teddy, der auf dem Rücken zwischen zwei Kissen liegend mit den schwarzen Knopfaugen gegen die Zimmerdecke starrte. Sie setzte ihn neben den Jungen auf den Teppich und stupste mit dessen Nase gegen die Schulter des Kindes. Ohne aufzublicken, umfasste der Junge den Spielkameraden mit einer schnellen Armbewegung und drückte ihn fest an den Körper.
»Wie heißt dein Freund denn?«, versuchte Rita, eine Unterhaltung in Gang zu setzen. Nichts geschah. Nur das Weinen setzte für einen kurzen Moment aus. Als Rita schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, kam zögerlich die Antwort: »Bienchen.«
»Wow, das ist aber ein schöner Name für den süßen Teddy«, reagierte Rita, dankbar dafür, dass der Kleine überhaupt eine Regung zeigte.
»Das ist ein Mädchen«, folgte die Richtigstellung aus Richtung des Kindes.
»Aha, dann hast du ja schon eine Freundin. Jemanden zum Kuscheln und Reden zu haben ist immer gut. Ich habe zu Hause auch ein Kuscheltier, einen Panda. Den habe ich seit ich ungefähr so alt wie du war. Der hat schon fast kein Fell mehr, so sehr habe ich den immer geknuddelt. Ist aber nicht schlimm. Ich habe den trotzdem noch genauso lieb wie damals. Dem erzähl ich immer, was so am Tag passiert ist. Dann geht es mir sofort wieder besser. Machst du das mit Bienchen auch so?«
Erfreut beobachtete Rita Momsen, dass der Junge nickte. Immer noch hatte er das Gesicht abgewendet und hielt seinen Teddy umklammert. Rita hielt an ihrer Taktik fest.
»Dann solltest du ihr vielleicht jetzt berichten, was du heute so alles erlebt hast. Sie wartet bestimmt schon darauf, weil er sieht, dass du sehr traurig bist. Sie will bestimmt wissen, warum du vorhin so eilig zu den Nachbarn gelaufen bist. Bienchen hätte bestimmt lieber mit dir gespielt.«
Wieder trat eine lange Pause ein, in der das Kind zu überlegen schien, ob es wirklich darüber berichten sollte. Erst als Rita nach seinem Namen fragte, kamen stockend die ersten Worte.
»Ich heiße Joel. Aber das weiß Bienchen doch schon.«
»Da bin ich mir sicher, aber nun weiß ich es auch und finde, dass es ein toller Name für einen so tapferen Jungen ist. Warum bist du denn nun zu den Nachbarn gelaufen? Willst du das uns beiden verraten? Bienchen ist schon ebenso gespannt wie ich.«
Rita verstand die ersten Worte nicht. Sie setzte sich deshalb direkt neben dem Kind auf den Teppich und legte ihren Arm um die beiden Gestalten. Nun konnte sie jedes Wort deutlich hören, das der Junge, immer wieder zwischendurch schluchzend, von sich gab.
»Ich hatte Angst, weil er Mama so schlimm wehgetan hatte. Sie konnte nicht mehr mit mir reden. Mama hat mich immer nur angesehen, als ich sie fragte, warum sie so sehr blutete. Er hat sie einfach an die Wand gehängt. Das ist so gemein. Das tut Mama doch bestimmt weh.«
Wieder erfasste ein Weinkrampf den Jungen und schüttelte ihn durch. Fest umklammerte Rita das Kind und den Teddy, presste beide an sich. Verzweifelt suchte sie nach Worten, die dem Kind jetzt etwas Trost spenden konnten. Spontan begann sie damit, Heinz Rühmanns berühmtes Gutenachtlied LaLeLu zu summen, was sofort eine positive Reaktion bei dem Kleinen hervorrief. Das Zittern des Körpers war kaum noch feststellbar und er hörte aufmerksam zu. Erst als Rita das Summen einstellte und ihre Frage »Hat sie dir was sagen können?« folgte, sprach er weiter.
»Mama konnte nicht sprechen. Sie hatte schlimme Schmerzen. Und da war das viele Blut, das aus ihr herauslief. Ich hatte solche Angst, dass ich zu Tante Helena lief. Die passt manchmal auf mich auf, wenn Mama und Papa irgendwohin müssen. Und dann waren da plötzlich so viele Polizisten.«
»Das hast du ganz toll gemacht – genau richtig. Aber du hast mir gerade erzählt, dass er deiner Mama so sehr weh getan hat. Wen meintest du damit? War hier ein Mann im Haus? War das jemand, den du kennst, oder war es ein Fremder? Hast du ihn überhaupt gesehen? Das ist ganz wichtig, mein tapferer Joel.«
Statt einer Antwort auf die Frage, hob Joel plötzlich den Lockenkopf und wollte stattdessen wissen: »Wird Mama wieder gesund, wieder so richtig gesund? Sie hatte so schreckliche Schmerzen?«
»Das kann ich dir jetzt nicht so genau beantworten, mein Schatz. Da sind schon ganz viele Helfer bei ihr, die alles versuchen werden. Ich denke schon. Doch ich möchte gerne den Mann kennenlernen, der deiner Mama das angetan hat. So was tut man nicht. Du hast ihn doch gesehen, oder? Wie sah der aus? Groß, klein, dünn, dick, viele Haare, oder Glatze? Wir wollen den suchen, weil er für das, was er deiner Mama angetan hat, büßen soll. Du hilfst mir, den zu fangen. Du kennst das doch aus den Detektivgeschichten von Die drei Fragezeichen, oder? Wir beide werden den Mann sicher finden. Ich denke, dass Bienchen uns auch noch helfen wird. Wir brauchen einen so starken Verbündeten.«
Allmählich erhielt Joels Gesicht wieder eine halbwegs gesunde Farbe und er wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers die restlichen Tränen aus den rot geweinten Augen.
»Der war ganz schön groß. Und einen schwarzen Bart hatte er auch – so einer, der um den Mund herum wächst.«
»Das ist aber sehr gut beobachtet, mein Freund«, lobte Rita den kleinen Kerl, der jetzt Feuer gefangen hatte und einen Augenblick von der Tragik des Geschehens abgelenkt schien. »Jetzt aber weiter. Wir sind ganz nah dran an dem Burschen. Hat der einen Namen genannt, an den du dich erinnerst?«
»Der wollte auf die Uhr sehen, unten im Keller ... und der hatte einen blauen Anzug an, so einen mit Hosenträgern. Warte mal. Ich glaube, der hat mit Mama gesprochen und seinen Namen genannt. Leimer oder Keiner ... nein, ich hab`s ... er hieß Greiner. Genau. Greiner war sein Name.«
Rita stockte einen Moment, als Joel den Namen nannte, schrieb jedoch alles in einen kleinen Notizblock.
»Ich bin baff. Du bist ja mindestens so cool wie dieser Kalle Blomqvist.«
»Wer ist das, dieser Blomwist, oder wie der heißt?«
Rita musste beinahe lachen, als sie in die fragenden Augen des Kleinen blickte.
»Ach, dieser Kalle Blomqvist ist ein berühmter Kinderdetektiv, der zu meiner Zeit auf Verbrecherjagd ging. Ich vergaß, dass du den ja kaum kennen kannst. Du solltest, wenn du groß bist, unbedingt zur Polizei gehen. Du würdest dort berühmt werden.«
Die Stimme vom Eingang des Zimmers riss Rita und ihren neuen Freund aus dem Gespräch.
»Joel, Gott sei Dank. Dir ist nichts passiert. Komm her, mein Kleiner.«
Joel befreite sich aus Ritas Armen und sprang auf. Mit einem Jubelschrei stürmte er an Momsen vorbei hin zu dem großgewachsenen, schlanken Mann, der den Jungen sofort in die Arme riss und fest umschlang. Lange hielt er ihn an die Brust gedrückt, wiederholte immer wieder die Worte: »Mein Gott, danke, dass du wenigstens ihn verschont hast. Danke.«
»Ja, ja, Liebig, Sie können Schiller wieder ins Boot holen. Ich kann mir nur schlecht vorstellen, dass er in seiner jetzigen Gemütslage überhaupt für klare Analysen zu gebrauchen sein wird. Klären Sie mich aber vorher über den Stand der Dinge auf.«
Kriminalrat Rösner setzte sich an das Kopfende des Tisches und wartete geduldig auf den Bericht des Hauptkommissars. Auch die Kommissare Rita Momsen und Klaus Spiekermann waren zugegen, die diesen Fall gemeinsam bearbeiteten.
»Ich denke, dass es unstrittig ist, dass diese beiden Morde unmittelbar zusammenhängen.« Liebig wartete eine Antwort nicht ab und fuhr fort. »Wir werden eine Soko in der alten Zusammensetzung bilden, sofern Herr Rösner dem zustimmt.«
Statt einer Bestätigung folgte ein Nicken des Angesprochenen. Liebig fuhr fort.
»Es wird Sie alle nicht überraschen, wenn ich Ihnen mitteile, dass wir vonseiten des Oberstaatsanwaltes jede Rückendeckung und Hilfe zugesichert bekamen. Sobald Hauptkommissar Reinder und einige andere Kollegen ins Team gekommen sind, werden wir damit beginnen, alle Fälle durchzuackern, in denen sowohl Schiller als Gutachter oder Rechtsmediziner als auch Staatsanwalt Melchior für die Anklage involviert waren. Da muss es einfach Zusammenhänge geben, die uns hoffentlich ein Muster erkennen lassen. Ich befürchte, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass jemand eine Todesliste abarbeitet. Wir müssen schnellstmöglich den Auslöser finden, um weitere Morde in unserem Umfeld zu verhindern.